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Azzurro – Mit 100 Songs durch Italien

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„Azzurro – Mit 100 Songs durch Italien“ ist so etwas wie der Sommerhit 2022 unter den deutschen Sachbüchern. Geschrieben wurde der bei Kiepenheuer & Witsch erschienene Bestseller vom Schriftsteller, Journalisten und Musiker Eric Pfeil, der 1969 in Bergisch Gladbach geboren wurde und seit vielen Jahren in Köln lebt. Wir unterhielten uns mit ihm über seine Italien-Leidenschaft, den enormen Erfolg seines Buches, seine Pläne und natürlich auch über die höchst relevante Frage, ob Köln tatsächlich die nördlichste Stadt Italiens ist.

Was war der Ursprungsgedanke hinter „Azzurro“?

Ich wollte den Lesern von meiner großen Liebe, der italienischen Popmusik, der musica leggera, erzählen. Gleichzeitig wollte ich mir mit dieser Musik das Land in all seiner Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit erklären. Ich kenne niemand, der Italien nicht zunächst einmal oberflächlich als „schön“ wahrnimmt. Sensiblen Menschen kann aber nicht entgehen, dass in diesem Land mit seinem bemerkenswerten Nord-Süd-Gefälle und seiner hochkomplexen Geschichte einige Widersprüche am Werk sind: Leichtlebigkeit und Prüderie. Belcanto und Berlusconi. Machos und Muttersöhnchen. Großherzigkeit und Misstrauen. Was ist mit dem Katholizismus, was ist mit den Frauen, wie steht es um den Einfluss der Mafia? Ich wollte das besser begreifen, und irgendwann wurde mir klar, dass die Antworten auf alle Fragen, die ich an Italien habe, in seiner Musik liegen. 

Was begeistert Sie so an italienischer Musik?

Ihre Hingewandtheit zum Leichten bei gleichzeitigem Behandeln großer Themen. Und die Bereitschaft dazu, jederzeit in theatralischen Belangen alles zu geben. Es gibt dieses schöne italienische Wort „sprezzatura“, die Gabe, etwas Schwieriges und Komplexes anstrengungslos wirken zu lassen. Das ist das Prinzip hinter der italienischen Musik. Das Leichte ist hier die höchste zu erreichende Stufe. Im letzten Jahr hatte das Duo Colapesce Dimartino einen riesigen Sommerhit mit „Musica leggerissima“. Da heißt es im Refrain: „Leg bitte etwas leichte Musik auf, damit ich nicht in das schwarze Loch falle.“ Das war im Corona-Jahr 2021 für Italien die liedgewordene Beschwörung des wichtigsten italienischen Prinzips. Italien ist ja weiß Gott ein krisengeplagtes Land, aber auf diese Krisen antwortet man für gewöhnlich mit Leichtigkeit, von dieser Tugend können wir Deutschen uns einiges abgucken. Der große Autor Ennio Flaiano hat die italienische Haltung mal mit einem schönen Aphorismus auf den Punkt gebracht: „Die Lage ist aussichtslos, aber nicht ernst.“

Nun erfährt man in Ihrem Buch ja auch einiges über Italien. Haben Ihnen schon Italiener*innen gesagt, was sie von Ihrer Sicht auf Land und Leute halten?

Das war mir natürlich sehr wichtig. Ich maße mir ja nicht an, den Lesern Italien zu erklären: Ein Deutscher, der Italien erklärt – schrecklich! Ich erkläre mir das Land, und man ist eingeladen, dabei zu sein – hoffentlich mit Erkenntnisgewinn. Umso beruhigter war ich, als mir nach Erscheinen viele Italienerinnen und Italiener gesagt haben, dass sie sich wiedergefunden haben. Oder dass sie ihre Kindheit wiedergefunden haben. „Dieses und jenes Stück hat mein Vater immer gehört“ oder „Ich musste daran denken, wie es war, das Sanremo-Festival mit meinen Eltern im Fernsehen zu schauen“, so etwas kam oft. Am stolzesten war ich, als mir mein Italienischlehrer mit ernstem Gesichtsausdruck mitteilte, dass ich da etwas Schönes hinbekommen hätte. Ich sehe mich ja so ein bisschen als Botschafter eines differenzierten Italienbildes, das über die Klischee-Zuschreibungen hinausgeht. Wenn mir das ein wenig gelänge, wäre ich zufrieden.

Sie haben es mit „Azzurro“ bis in die Top 10 der SPIEGEL-Bestseller-Liste „Sachbuch Taschenbuch“ geschafft. Haben Sie mit diesem Erfolg gerechnet?

Nein, ich bin ziemlich perplex. Ich dachte mir zwar, dass das Thema sicherlich sehr unterschiedliche Menschen ansprechen könnte: sowohl die, die nur ihr Sommer-Sonne-Strand-Bild pflegen, als auch die, die – wie ich – hinter die Kulissen schauen und ein paar inneritalienische Zusammenhänge verstehen wollen. Dass das Buch aber so einschlagen und ein Bestseller werden würde, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorzustellen gewagt. Ich sehe es momentan als Bestätigung dafür, dass es sich letztlich auszahlt, bei seinen Leidenschaften zu bleiben, selbst wenn sie noch so obskur scheinen.

In den vergangenen Wochen gab es große Berichte und Interviews unter anderem in der Süddeutschen Zeitung und im „Stern“, Ihr Buch ist Thema in Hörfunk und Fernsehen, außerdem zeigen Sie in den sozialen Netzwerken Präsenz und sind auf Lese-Tour. Haben Sie einen Überblick, was besonders zum Erfolg Ihres Buches beigetragen hat?

Einen deutlichen Aufmerksamkeitsschub haben der Sache sicher das große Interview in der Süddeutschen Zeitung und die Lobpreisung von Christine Westermann im „Stern“ gebracht. Ich hatte aber auch das große Glück, dass es eine anhaltende Berichterstattung in Radio, Print und TV gab, die bis heute nicht abgerissen ist. Mir scheint aber auch die gute alte Mundpropaganda (die heute wohl mit Social-Media-Propaganda gleichzusetzen ist) in diesem Fall einiges auszumachen. Ich hatte aber sicher auch großes Glück mit dem Timing. Als „Azzurro“ im Mai erschien, konnte man die Sehnsucht der Menschen nach Leichtigkeit ja förmlich mit Händen greifen.

Wie viele Bücher wurden bislang verkauft?

Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Soeben wurde die dritte Auflage ausgeliefert. Ich habe mir in meiner Zeit als aktiver Musiker angewöhnt, Verkaufszahlen so lange zu ignorieren, bis man sie zwangsläufig im Kontostand widergespiegelt findet. Das ist vielleicht nicht für jeden nachvollziehbar, aber ich finde, einem – um diesen aufgeladenen Begriff zu benutzen – „Künstler“ tut es im Zusammenhang mit seiner Arbeit und seinem Selbstbild nicht gut, wenn man sich zu sehr mit dem finanziellen Aspekt beschäftigt. Die Währung, in der ich gerade den Erfolg messe, ist eine andere: Ich bin einfach nur total glücklich, dass ich so viele Menschen für mein Herzensthema – Italien und seine Popmusik – begeistern kann.

Hand aufs Herz: Wie viele Italien-Urlaube lassen sich mit „Azzurro“ finanzieren?

Haha, schwierig einzuschätzen. Ich weiß tatsächlich nur soviel: Anders als beim Musikmachen zahle ich nicht drauf.

Sie veröffentlichen im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch. Wie kam dieser Kontakt zustande?

Ich habe 2009 bei Kiepenheuer & Witsch mein erstes Buch veröffentlicht, damals sprach mich Kerstin Gleba an, die heutige verlegerische Geschäftsführerin. Danach hatte ich zwar viele Ideen, aber mich verließ immer wieder die Lust. So ein Buch zu schreiben ist sehr zeitintensiv, man muss an das jeweilige Thema also wirklich glauben. Erst die Italien-Idee hat mich wirklich wieder gepackt. Es gab also einen noch offenen Vertrag, den ich mit, wenn man so will, süditalienischer Verschlurftheit nun also endlich erfüllt habe. 

Hat der Verlag schon nach einem Nachfolge-Band gefragt?

Wenn es nach mir ginge, könnte ich drei Nachfolge-Bände zum Thema „Italien und seine Musik“ schreiben. Schon aus dem schlichten Grund, weil es soviel gibt und ich in „Azzurro“ ja auch manches nicht berücksichtigen konnte. Zudem tummle ich mich einfach gerne in dieser Welt, und es gäbe noch so viel zu erzählen. Ich bin mir aber nicht sicher, wie man im Buch-Geschäft zu Fortsetzungen steht. Ansonsten muss ich warten, bis mich das nächste Thema anweht. Für den nächsten Winter brauche ich jedenfalls ein Projekt.

Wie sehen Ihre Pläne denn aus, als Schriftsteller, aber auch als Musiker?

Bei mir ist es immer so, dass ich drastische Brüche brauche. Der Grund, warum ich nach 2009 erstmal kein weiteres Buch geschrieben habe, war, dass mir die Musik dazwischenkam und ich lieber Alben aufnehmen und live spielen wollte. Gleichzeitig bedingt das eine immer das andere: Ein literarischer Text kann zu einem Song führen und umgekehrt. Im Moment würde ich tatsächlich gerne nochmal ein Album machen, dass zwar von der italienischen Popmusik beatmet ist, diese aber nicht kopiert. Aber der Musikmarkt, dem es ja ohnehin seit vielen Jahren nicht gutgeht, ist in den letzten 24 Monaten noch schwieriger geworden.

Noch zwei weitere wichtige Fragen. Erstens: Welche drei Songs braucht man beim Italien-Urlaub 2022?

Ein Klassiker: „Se telefonando“ von Mina. Eine Kathedrale von einem Lied, komponiert vom jungen Ennio Morricone vor Beginn seiner Laufbahn als Filmkomponist.

Ein Lied von Italiens größtem musikalischen Genie: „La collina dei ciliegi“. Battisti war Italiens Lennon/McCartney. Mit seiner Stimme dringt er in Seelenwinkel vor, an die kein anderer Sänger heranrührt.

Calcutta – „Cosa mi manchi a fare“. Italiens Indie-Genie. 2016 hat dieser wortgewandte Italo-Slacker mit seinem Debüt den italienischen Musikbetrieb umgekrempelt. 2018 stieg das Nachfolgewerk direkt auf Platz eins ein. Seither hat er kein Album mehr veröffentlicht.

Zweitens: Ist Köln wirklich die nördlichste Stadt Italiens? 

Wenn man bei den Klischees bleibt, kann man die Frage gar nicht anders als mit einem klaren „Ja!“ beantworten: Das Wetter in der Kölner Bucht ist von Milde geprägt, die Spuren der Römer sind im Stadtbild offensichtlich, und nichts funktioniert wirklich. Italienischer geht es kaum.

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