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Im Interview mit Jonas Rothe

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In einem Ladenlokal am Alter Markt bietet die TimeRide GmbH im originalgetreuen Nachbau einer Straßenbahn virtuelle Fahrten durch vergangene Zeiten an. Ein Gespräch mit Gründer und Geschäftsführer Jonas Rothe, der in München einst Kultur- und Musikmanagement studierte.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, zum Zeitreisen-Anbieter zu werden? 

Geschichte und Zeitreisen haben mich schon fasziniert, als ich noch ein kleiner Junge war. Ich hatte das Glück, eine Prototypenvariante einer VR-Brille auf die Nase gesetzt zu bekommen. Mich hat diese Technologie sofort extrem fasziniert, weil mir gleich klar wurde: Durch sie rückt man der perfekten Illusion einer Zeitreise ein Stück weit näher. Anders als bei einer Dokumentation auf dem Fernsehbildschirm entsteht so das Gefühl, mittendrin im Geschehen zu sein. Mit meinem damaligen Arbeitgeber und ehemaligen Professor an der Hochschule für Musik in München habe ich 2016 dann die Firma TimeRide gegründet. 

Warum der Start in Köln? 

Köln hat eine extrem spannende Geschichte, die Einheimische wie Touristen gleichermaßen begeistert. Dazu kam die Chance, in einem sensationellen Ladenlokal am Alter Markt zu guten Konditionen zu starten. Produktion und Management sitzen ebenfalls in der Geschäftsstelle am Alter Markt. Die erste Experience startete im September 2017 mit einer virtuellen Reise in die Kaiserzeit.  

Offenbar keine schlechte Idee …

Ja, wir hatten gleich im ersten Jahr 120.000 Besucher, im zweiten 130.000. Dieser Erfolg hat uns darin bestärkt, weitere Standorte zu eröffnen. 2018 lizenzierten wir die Kölner Experience für einen Freizeitpark in China. Dafür haben wir die baugleiche Straßenbahn mit einer riesigen Antonow eingeflogen, die in Moskau aber erst einmal mit einem technischen Defekt am Boden bleiben musste. Ein echtes Abenteuer, das aber auch einen Riesenspaß gemacht hat. Außerdem haben wir in Dresden eine barocke Zeitreise eröffnet. 2019 kamen Berlin und München dazu und 2020 unser „Corona-Baby“ Frankfurt. Den Laden dort wollten wir eigentlich im März eröffnen. Wir hatten gerade unser Team aufgestellt, als die Nachricht kam, dass wir alles dicht machen müssen. Das sind Momente, die braucht man kein zweites Mal. 

Wie haben Sie hier in Köln auf die Pandemie reagiert? 

Es hieß ja, dass man alles nach draußen verlagern soll. Also haben wir in Blitzgeschwindigkeit gemeinsam mit dem Kölner Stadtführer e. V. und Köln Tourismus den Stadtrundgang TimeRide Go! entwickelt. Stadtführungen sind großartig. Allerdings sieht man in der Regel nicht, wie es an Ort und Stelle früher einmal aussah. Unsere Idee war daher: Mobile VR-Brillen können bei einer Führung ein gutes Bild von über 2000 Jahren Stadtgeschichte vermitteln. Von der Idee bis zum Start von TimeRide Go! hat es gerade einmal zwei Monate gedauert, so dass wir im Sommer 2020 die ersten Touren anbieten konnten.        

Erfolgreich, wie man hört. 

Ja, das ist super angelaufen, mit einer Auslastung von mehr als 90 Prozent. Wir waren optimistisch, dass wir damit zumindest ansatzweise das weggefallene Geschäft ausgleichen können. Doch dann kam der zweite Lockdown, und es war relativ schnell klar: Jetzt müssen wir in einen sehr langen Winterschlaf. Seit über sechs Monaten sind nun alle unsere Standorte geschlossen. 

Und nun?

Wir hoffen natürlich, dass wir im Sommer wieder aufmachen dürfen, und haben die Zeit genutzt, ein neues Virtual-Reality-Erlebnis zu produzieren. Dieses Mal geht es in das Köln der 1920er Jahre. Ermöglicht hat das die Film- und Medienstiftung NRW mit einem Vorschuss. Allein hätten wir die Produktion in diesen Zeiten sicher nicht finanzieren können. 

Wie viele Mitarbeitende haben Sie? 

Aktuell beschäftigen wir knapp einhundert Angestellte. Allein zum hauseigenen Produktionsteam gehören 20 Mitarbeiter. Dazu zählen Historiker, 3D-Artists, die im Computer die Gebäude rekonstruieren, Character Designer, die sich sehr genau anschauen, was die Menschen zur jeweiligen Zeit getragen haben. Zu diesem Kernteam kommen wie bei einer Filmproduktion noch viele weitere Gewerke dazu. 

Klingt aufwendig. 

Die Produktion einer neuen Zeitreise dauert rund neun bis zwölf Monate. Daran lässt sich auch ermessen, wie viel Arbeit und Detailliebe in TimeRide stecken.

Erzählen Sie doch bitte mal. 

In der Regel rekonstruieren wir für jede Experience rund 600 Häuser. Als Vorlagen dienen Gemälde und Fotografien. Wir erschaffen die Gebäude dann am Computer in 3D neu und achten darauf, dass sie ein stimmiges Stadtbild abgeben. Für ein Gebäude wie den Dom sitzt ein Mitarbeiter gut eineinhalb Monate am Rechner. Und damit ist es ja nicht getan! Es gibt ja auch noch die Büdchen, die auf den Plätzen stehen, den Handkarren, der weggeschoben wird … 

Viele Details. 

Ja, man soll möglichst viel entdecken können. Es ist das Ziel, dass ein Besucher oder eine Besucherin nicht nur einmal fährt, sondern sagt: Heute saß ich links in der Straßenbahn und habe unglaublich viel zu sehen bekommen, beim nächsten Mal setze ich mich rechts hin. Wir haben die Erfahrung gemacht: Die Kölner nutzen das super gern. Es gibt Leute, die waren jetzt schon 15-mal da und entdecken immer noch etwas, das sie vorher nicht gesehen haben. Und nach Corona gibt es ja dann ein ganz neues Erlebnis.  

Kommen vor allen Dingen Kölner zu Ihnen? 

In Köln sind es tatsächlich sehr, sehr viele Einheimische sowie die Menschen aus dem Umkreis. Schätzungsweise leben in einem Radius von 80 Kilometern um die zehn Millionen Menschen. Und viele von ihnen fühlen sich Köln zugehörig. Das sieht man schon allein daran, welche Fahnen auf dem Land wehen: die vom 1. FC Köln. Die Leute lieben diese Stadt und ihre Geschichte! Das war ein wichtiger Grund, warum wir hier begonnen haben. Außerdem gibt es nur wenige Städte, die ihr Aussehen so dramatisch verändert haben.

Wohl wahr. Um noch einmal auf Ihre Kundschaft zurückzukommen: Sie profitieren also vom großen Einzugsgebiet Kölns. 

Ja, aus dem Umkreis kommen sehr viele Leute. Und dann natürlich noch die Tages- und Übernachtungstouristen, ob das jetzt die klassischen Schiffstouristen sind, andere Gruppenreisende oder Individualtouristen. Wen man bei uns auch oft sieht: Schulklassen und Familien, von den Großeltern bis zu den Enkeln. 

Haben Sie in Deutschland eigentlich Mitbewerber? 

Wir sind auf dem Gebiet der virtuellen Zeitreisen in Deutschland, vielleicht sogar in Europa der größte Anbieter. Wenn wir wieder dürfen, sind an unseren Standorten gleichzeitig an die 250 VR-Brillen im Einsatz, mit mehr als 300 Rechnern. Ich kenne keinen anderen Anbieter, der sich in solchen Dimensionen bewegt. Da gibt es eher mal kleinere Projekte. 

Wollen Sie noch größer werden? 

Unser Ziel ist es, weiterhin zu wachsen. Wir wollen das virtuelle Zeitreisen möglichst vielen Menschen ermöglichen – warum nicht auch im europäischen Ausland?!  

Sind die möglichen Storys an den jeweiligen Standorten nicht irgendwann mal auserzählt?

Ich bin mir sicher, dass Geschichte die Menschen immer begeistert. Natürlich wechseln wir nach einer gewissen Zeit auch mal das Programm und bieten etwas Neues an. Ähnlich, wie es die Museen mit Sonderausstellungen machen, um attraktiv zu bleiben. Und um bei Köln zu bleiben: Diese Stadt hat so viel zu bieten, sei es das Mittelalter oder das Chicago am Rhein der Nachkriegszeit. Da gibt es noch unfassbar viel zu erzählen! 

Bereitet die Materialsuche keine Schwierigkeiten? 

Je nähern wir am Heute sind, desto einfacher wird natürlich die Produktion. Man hat ein sehr reichhaltiges Bildmaterial und viele Zeitzeugen, die manches einordnen können. Dies ist gleichzeitig auch eine große Herausforderung: Ihre Erinnerungen unterscheiden sich stark, da sie nun mal sehr subjektiv sind. Wenn ich dagegen in eine barocke oder mittelalterliche Zeit zurückreise, dann habe ich natürlich viel, viel weniger Material zur Verfügung stehen als etwa bei einer Produktion über die 1980er Jahre. 

Und dann? 

In Dresden zum Beispiel haben wir auf der Basis von Kupferstichen gearbeitet. Das Problem: Im Barock hat man bei der Darstellung von Gebäuden und Plänen gerne mal massiv übertrieben. Also haben wir recherchiert, ob an anderer Stelle ähnliche Bauwerke errichtet wurden, was die Überlieferungen dazu sagen, und ob es die Gebäude vielleicht sogar noch gibt. 

Sie arbeiten also wie ein Detektiv?

Auf diese Weise lässt sich ein ziemlich authentisches Stadtbild gestalten. Natürlich kann man – je weiter man zurückgeht – nicht mehr bei jedem Haus zu hundert Prozent sagen: Das sah genauso aus, und der Fachwerkbalken saß genau dort. Man weiß aber schon recht genau, wie das Gesamtstadtbild aussah, und das ist uns wichtig: Wir wollen eine möglichst authentische und lebendige Szenerie erschaffen. Unsere Besucherinnen und Besucher sollen in das Leben der damaligen Zeit eintauchen können und das Gefühl haben, selbst zu Zeitzeugen zu werden.

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