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Im Gespräch mit Prof. Dr. Christian Zabel

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Dr. Christian Zabel ist Professor für Unternehmensführung und Innovationsmanagement an der Technischen Hochschule Köln und verfügt über 20 Jahre Erfahrung in der TV- und Digitalbranche. Zuvor war er Leiter des Produktmanagements von t-online.de, Deutschlands größtem General-Interest-Portal. Im Auftrag des Mediencluster NRW erstellte er zusammen mit Prof. Dr. Gernot Heisenberg die Studie „Die XR-Branche in Deutschland 2021“. 

 

„XR“ steht für „Extended Reality“. Was genau ist darunter zu verstehen?

Wir verwenden den alternativen Begriff „Cross Reality“, das meint aber dasselbe und ist eine Klammer für verschiedene Technologien. Dazu gehört erstens Virtual Reality (VR), das heißt, sie haben eine Brille auf dem Kopf, die das Sichtfeld komplett abschirmt, und sind dann in einer computergenerierten virtuellen Welt, in der sie sich bewegen und interagieren können. Dann gibt es – zweitens – Augmented Reality (AR). Das bekannteste Beispiel dafür ist wahrscheinlich Pokémon Go. Zur AR gehören Apps oder Anwendungen, die ich in der Regel übers Smartphone nutze. Ich halte das Smartphone hoch, schaue auf sein Display und sehe die Echtwelt, in die virtuelle Elemente projiziert werden, also zum Beispiel ein Pokémon-Monster oder eine IKEA-Couch. Und dann gibt es drittens noch Mixed Reality (MR), da existieren unterschiedliche Abgrenzungen zu VR und AR. Wir haben MR so definiert, dass man sagt: Man hat zwar eine Brille auf, befindet sich aber nicht in einer virtuellen Welt, sondern sieht die Echtwelt, in die die virtuellen Elemente eingespielt werden. Google Glass war 2012 der Vorläufer, die Microsoft HoloLens ist vielleicht das bekannteste Produkt, das man in diese Kategorie einordnen kann.

 

Was unterscheidet MR von AR?

Bei AR müssen Sie immer das Handy hochhalten. Die MR-Brille haben Sie auf und sind damit always on.

 

Wie verbreitet ist XR?

Man muss sagen, dass XR eine Trendtechnologie ist, und das auch schon länger. Die Durchsetzung in der großen Breite steht allerdings noch aus. In den vergangenen Jahren hat sich die Dynamik sicherlich beschleunigt, zuletzt durch das Thema Metaverse. Aber es ist derzeit keine Technologie, die unter Konsumenten so verbreitet ist wie beispielsweise das Handy.

 

Wo wird sie denn vor allem genutzt?

In der AR ist beispielsweise neben Pokémon Go im Consumer-Markt die Einrichtungs-App von IKEA sehr bekannt, ich erwähnte ja gerade schon die Couch. Ein Case, den junge Mediennutzer kennen und der bei ihnen sehr weit verbreitet ist, sind Foto-Filter. Wenn Sie Fotos machen oder ein Bild oder Video bei Instagram, Snapchat oder TikTok hochladen, können sie dort Filter drüberlegen, dann haben Sie beispielsweise Hasenohren oder Ihnen laufen Einhörner um den Kopf herum. Das wird extrem stark genutzt. VR wird privat natürlich sehr intensiv beim Gaming verwendet. Es gibt einige Spiele, wo Sie sich beim Spielen in einer virtuellen Welt befinden, etwa bei Ego-Shootern. Wenn man sich die Wertschöpfung in Deutschland anguckt, liegt bei VR der bedeutendere Teil aber im B2B-Segment.

 

Wo dort genau?

Wir sehen einerseits, dass immer mehr Firmen mit diesen Technologien experimentieren. Zum anderen bemerken wir aber auch den Übergang von „Wir probieren das mal aus“ zu „Wir integrieren das tatsächlich in unsere produktiven Systeme“. Und da gibt es ganz unterschiedliche Anwendungen. VR wird schon seit Ende der 90er Jahre im Prototypen-Design genutzt. Ein ‚Klassiker‘ ist der Motorblock, der wird virtuell in den Raum projiziert wird. So können Konstrukteure ihn sich als Ganzes angucken oder aber – wie in einer Explosionszeichnung – in seinen einzelnen Bestandteilen. Das ist ein sehr gut etablierter Case. Wir sehen aber auch zunehmend Anwendungen, die die Wartung etwa von großen Maschinen erleichtern. Der Techniker kann sich Informationen auf die Brille einspielen lassen, muss also nicht die ganzen Dokumentationen mitschleppen, und bekommt zum Beispiel angezeigt, welche Schraube als nächstes gelöst werden muss. Die leuchtet dann auf.

 

Gibt es weitere Anwendungsgebiete?

Ein großer Case ist das Thema Training, bei Azubis ebenso wie bei Spezialisten. Dank XR können sie gewisse Situationen erproben, die man in der Echtwelt vielleicht nicht so gut darstellen kann. Bei Currenta etwa gibt es eine Anwendung, mit der Azubis lernen, wie man einen Pumpenstand bedient. Dafür extra einen Pumpenstand anzuschaffen, wäre teuer, und der vorhandene ist ja in Betrieb. Also findet das Training virtuell statt. Es gibt aber noch viel mehr Anwendungsgebiete, etwa in der Logistik das Way Finding im Lagerhaus. Der Picker hat dort eine Brille auf und bekommt eingespielt, in welchen Gang er gehen muss und wo die Ware liegt, die er als nächstes aus dem Regal holen muss.  

 

Welche Rolle spielt die Entwicklung von XR-Hardware und -Software in der deutschen Wirtschaft?

Was die Hardware angeht, ist das fast ausschließlich internationales Geschäft. Die Anbieter produzieren fast nicht in Deutschland. Das gilt auch für viele Softwareplattformen, also Produkte und Lösungen, die für die Herstellung von XR eingesetzt werden können. Wo wir eine Wertschöpfung haben, ist die Entwicklung von konkreten Applikationen, etwa wenn ein Unternehmen sagt: Ich hätte gerne ein Tool, um meine Prototypen effizienter entwickeln zu lassen, ein Training durchführen zu können oder meine Produkte virtuell auf Messen zu präsentieren.  Wir haben mittlerweile aber durchaus auch einige Anbieter, die dabei sind, eigene Produkte und Plattformen aufzubauen. Das steckt aber noch in den Kinderschuhen und ist nicht vergleichbar mit dem, was man von den großen Playern kennt.

 

Wie groß ist der Umsatz, der mit der Entwicklung von XR-Lösungen national generiert wird?

Wir haben in unserer letzten Studie festgestellt, dass der Umsatz in Deutschland etwa bei einer Größenordnung von 380 bis 420 Millionen Euro liegt. Im Vergleich zur Automobilwirtschaft ist das natürlich sehr wenig, im Vergleich zu anderen Digitalbranchen aber eine ordentliche Summe. Es gibt eine Studie vom Verband der deutschen Games-Branche, der zufolge die hiesigen Games-Entwickler 2020 so um die 350 Millionen Euro generiert hat. Natürlich ist die Games-Branche insgesamt viel umsatzstärker. Aber wir haben hier die gleiche Situation wie in der XR: Die größten Umsätze erzielen Spiele, die nicht in Deutschland programmiert wurden und nicht deutschen Firmen gehören. Wenn man sich also anschaut, wie viel Geld die Games-Branche hierzulande in der Entwicklung von Spielen deutscher Machart oder in der Zulieferung macht, dann spielt die XR-Branche in der gleichen Liga.

 

Wie geht es weiter?

Bei der VR sagt man immer: „In zwei bis drei Jahren ist es soweit, dann bricht sie durch.“ Tatsächlich warten wir noch auf die Etablierung im Massenmarkt. Ein großes Thema ist dabei bislang die Qualität der Hardware gewesen, die wird aber fortlaufend besser, von der Grafik, von der Auflösung, vom Tragekomfort. Das zeigt sich auch an den Absätzen. Oculus, das zu Meta – vormals Facebook – gehört, ist der größte Hardware-Hersteller im VR-Bereich. Er hat den Headset-Verkauf im vergangenen Jahr auf acht Millionen Einheiten gesteigert. Im Vergleich zum Handy-Markt ist das natürlich sehr wenig, aber drei Jahre zuvor waren es vielleicht eine Million oder zwei. Das heißt, das Wachstum ist doch sehr groß. Wenn sich das durchsetzt und standardisiert, kann man sich den Einsatz dieser Technologie schon in vielen Settings vorstellen. Wie das konkret aussehen wird – anyone‘s guess. Als Mark Zuckerberg die Strategie vorstellte, dass die virtuelle Realität des Metaverums von nun an der große Fokus sein soll, machte er die Vision auf, dass wir während der Arbeitszeit ständig die Brille aufhaben und unentwegt in der virtuellen Welt sein werden. Viele Experten bewerten das sehr skeptisch.

 

Was halten sie Zuckerberg entgegen?

Dass man sicherlich nicht den ganzen Tag so eine Brille aufhaben will und VR eher punktuell angewendet werden wird, also dort, wo es wirklich einen Mehrwert bringt. Und da sind sehr viele Cases vorstellbar. Vor allem ist XR nicht auf eine Branche beschränkt. Die Anwendungsgebiete, die ich genannt habe – Training, Logistik, Service & Wartung, Produktentwicklung, es gibt noch weitere – betreffen mehr oder weniger jede Branche. Das Potenzial ist also erheblich. Es gibt eine ältere Studie von PWC, in der prognostiziert wurde, dass global anderthalb Billionen Dollar zusätzliche Wertschöpfung entstehen könnte, wenn man XR einsetzt.

 

Das müssen die potenziellen Anwender jetzt nur noch bemerken.

Man hat ja in der Corona-Pandemie gesehen, wie schnell sich Dinge verschieben können. Virtuelle Konferenzen per Zoom oder Teams waren früher undenkbar. Jetzt sind sie nicht mehr wegzudenken.

 

Haben Sie in einen Überblick, wie viele Unternehmen in Deutschland XR-Anwendungen beziehungsweise eigene Produkte entwickeln und anbieten?

Ja, wir haben das im Rahmen der Studie erhoben. 2021 haben wir in Deutschland 1353 derartige Firmen gefunden. Aktuell sind wir dabei, die neue Studie vorzubereiten, und da zeigt sich schon, dass sich die Zahl weiter erhöht hat.

 

Wie sieht es in Köln aus?

Köln ist einer der führenden XR-Standorte in Deutschland. Und unter den Bundesländern hat NRW die größte Zahl an Firmen, die sich mit XR befassen. 2021 sind wir in der Erhebung auf 380 Firmen gestoßen, die in NRW ihren Haupt- oder ihren Nebensitz haben. Damit liegt NRW deutlich vor Bayern, da sind knapp 300 Unternehmen ansässig. In Köln haben wir 116 Haupt- und Nebensitze von XR-Firmen gefunden, deutschlandweit waren es 1767. Die Anzahl übersteigt die der Firmen, weil viele Unternehmen nicht nur einen Hauptsitz haben, sondern eben auch einen Nebensitz. Köln ist also ein relevanter Standort und liegt im bundesweiten Ranking auf Platz 4. Das sähe noch besser aus, wenn man nicht nur das Stadtgebiet berücksichtigen würde, sondern die gesamte Rheinschiene mit Köln, Düsseldorf, Leverkusen und Bonn. Was die Firmenstruktur in Köln angeht, haben wir herausgefunden, dass vier von fünf Unternehmen schon länger als fünf Jahre im Markt aktiv sind.

 

Ihre Einschätzung der Marktdynamik?

Der Sektor entwickelt sich sehr dynamisch. Wir haben das 2021 mit Blick auf ganz Deutschland erhoben und festgestellt, dass zwischen 2016 und 2020 durchschnittlich 92 Firmen pro Jahr im XR-Bereich gegründet wurden. Man kann also von einer erheblichen Gründungsdynamik sprechen, zumal die Anzahl der Neugründungen im Vergleich zu früheren Jahren zugenommen hat. Es gibt auch zunehmend Firmen, die schon länger im Markt unterwegs sind und erst jetzt in diesen Sektor einsteigen; die müsste man noch mal on top rechnen. Es passiert tatsächlich sehr viel.

 

Wie kommt es, dass Köln dabei eine so gute Rolle spielt?

Zum einen ist XR eine Technologie mit einer großen Nähe zur Medienbranche und Medienanwendung, man denke da nur an Themen wie Visualisierung und Marketing. Und Köln ist nun mal einer der führenden Medienstandorte in Deutschland. Zum anderen hat die Kölner Wirtschaft durchaus auch eine starke IT-Komponente. Und dann kommt noch etwas Drittes hinzu, was sich im Großraum Köln positiv auswirkt: Es ist der sehr gute Branchenmix an Anwenderunternehmen. Die großen Firmen etwa in der Automobilindustrie und in der Chemiebranche fungieren als Treiber dieser Technologie. Zu den guten Umweltbedingungen, die Köln Unternehmen bietet, gehören natürlich auch die Lebensqualität der Stadt und die hervorragende Ausbildungssituation. Man findet hier einen gut qualifizierten Mitarbeiterpool vor. Und nicht zuletzt: Die Stadt und die IHK Köln haben es  gut verstanden, die Start-up-Szene und die Digitalwirtschaft voranzubringen.  

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